Wann ist mein Fahrzeugschaden ein (wirtschaftlicher) Totalschaden bzw. wann kann ich zu Lasten der Haftpflichtversicherung des Schädigers mein Fahrzeug reparieren lassen?
Ein Fachbeitrag der Kanzlei Edmund M. Jung, Freiburg. Verfasser: Rechtsanwalt Klaus Eric Föhr, Vorstandsmitglied der Rechtsanwaltskammer Freiburg
Ausgangspunkt für die Unfallregulierung ist zunächst der Fahrzeugschaden, dessen Beseitigung in der Regel (neben dem Körperschaden/Schmerzensgeld) den größten Kostenfaktor darstellt und die übrigen Schadenpositionen (Mietwagenkosten, Nutzungsentschädigung, Sachverständigenkosten usw.) entscheidend beeinflusst.
Wird ein neuwertiges Fahrzeug stark beschädigt, so kann der Geschädigte möglicherweise auf Neuwagenbasis abrechnen und bis zur Auslieferung des Neufahrzeugs in bestimmtem Umfang einen Mietwagen in Anspruch nehmen oder Nutzungsentschädigung geltend machen.
Nicht selten ist der Geschädigte froh, für ein unzuverlässiges und schwer verkäufliches Fahrzeug vom gegnerischen Haftpflichtversicherer den Wiederbeschaffungswert zu erhalten. In anderen Fällen möchte er sich von seinem vertrauten und zuverlässigen Fahrzeug nicht trennen und strebt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln danach, die notwendigen Reparaturen durchführen zu lassen.
An diesem Punkt stellt sich für den Geschädigten die Frage, ab wann kann er sein Fahrzeug reparieren lassen – und wann muss er sich auf den Wiederbeschaffungswert verweisen lassen.
Der Verfasser dieses Beitrags hat in seiner 15-jährigen Tätigkeit als Fachanwalt für Verkehrsrecht die Erfahrung gemacht, dass gerade dieser Punkt oft zu heißen Auseinandersetzungen mit den gegnerischen Versicherungen geführt hat. Da es sich hier nicht selten um beträchtliche Entschädigungssummen handelt, kommt auf den Rechtsanwalt des Geschädigten eine qualifizierte Beratungspflicht zu.
Normalerweise läge ein wirtschaftlicher Totalschaden dann vor, wenn die Reparaturkosten die Kosten einer Ersatzbeschaffung übersteigen. Um dem Geschädigten jedoch sein ihm vertrautes Fahrzeug zu erhalten, hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen die Frage erörtert, bis zu welcher Grenze bei einem wirtschaftlichen Totalschaden der Geschädigte sein ihm ans Herz gewachsenes Fahrzeug auf Kosten des Schädigers reparieren lassen darf (Integritätsinteresse).
Hier kommt dann die sog. 130%-Grenze ins Spiel, wobei die 130%-Grenze anhand der Reparaturkosten ermittelt wird.
Frage: Wie wird die 130%-Grenze anhand der Reparaturkosten ermittelt?
1.
Die 130%-Grenze wird dann überschritten, wenn die Bruttoreparaturkosten den Bruttowiederbeschaffungswert um mehr als 130 % übersteigen.
BGH-Urteil vom 03.03.2009 –VIZR 100/08 „…Kommt es beim Kraftfahrzeughaftpflichtschaden für den Umfang des Schadensersatzes darauf an, ob die vom Sachverständigen kalkulierten Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert übersteigen, ist in der Regel auf die Bruttoreparaturkosten abzustellen.“
2.
Eine weitere nicht selten vorkommende Frage, in welcher Weise eine Korrektur der 130%-Obergrenze zu erfolgen, ist dann zu stellen, wenn Mietwagenkosten hereinzurechnen sind. Vorm Grundsatz her sind Mietwagenkosten bei der Berechnung der 130%Grenze außen vor zu lassen.
Wenn sich jedoch die Reparaturkosten zzgl. eines Minderwerts der 130%-Grenze annähern, und durch die Inanspruchnahme eines Mietwagens das Missverhältnis zwischen einer 130% Abrechnung und einer Abrechnung auf der Basis des Wiederbeschaffungsaufwands auf der Basis einer eventuell kürzeren Ersatzbeschaffungsdauer immer deutlicher wird, taucht die Frage auf, ob die Mietwagenkosten bei der Vergleichsberechnung nicht doch berücksichtigt werden müssen.(so BGH-Urteil vom 15.10.1981 VI ZR 314/90).
3.
Das Integritätsinteresse führt nicht dazu, dass der Geschädigte generell 130% des Wiederbeschaffungswertes verlangen kann.
Nach BGH VI ZR 119/09 ergibt sich das Integritätsinteresse daraus, dass die Reparaturarbeiten auch tatsächlich und fachmännisch durchgeführt werden. Darunter fällt keine provisorische Notreparatur oder eine unfachmännische Selbstreparatur.
Der Geschädigte muss beweisen, dass das Fahrzeug fachgerecht – selbst mit gebrauchten Ersatzteilen – repariert wurde. Es genügt sogar eine fachgerechte Eigenreparatur.
Der Schädiger trägt das Prognoserisiko, wenn sich bei der Reparatur herausstellt, dass die 130%-Grenze überschritten wird.
Fazit:
Wenn die voraussichtlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30% übersteigen, ist die Instandsetzung in aller Regel unvernünftig, so dass der Geschädigte nur die Wiederbeschaffungskosten verlangen kann (so BGH VI ZR 2917/06)